Das Leben beschleunigt sich, umso älter man wird.
Als Kind schienen 3 Wochen bis zu den Ferien sich ins unendliche zu ziehen, heute können drei Wochen vergehen und ich bekomme es kaum mit.
Kein Wunder hört man oft, dass das Leben kurz sei und man es wohl besser nutzen solle.
Das ist keineswegs ein Phänomen unserer Zeit, denn schon vor 2000 Jahren schrieb der römische Philosoph Seneca an seinen Freund Paulinus einen Brief, der unter dem Titel "Über die Kürze des Lebens" in die Geschichte eingegangen ist.
Das Verrückte? Heute ist dieser Brief mindestens genauso relevant, wie vor 2000 Jahren.
Seneca hält sich nicht lange mit Floskeln auf, sondern fällt direkt in der Tür ins Haus:
"Nein, nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht; wir lassen nur viel davon verloren gehen. Das Leben, das uns gegeben ist, ist lang genug und völlig ausreichend zur Vollführung auch der herrlichsten Taten, wenn es nur von Anfang bis zum Ende gut verwendet würde;"
Er folgert daraus:
"So ist es: nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch."
Denn nach Seneca, sind wir zu sehr beschäftigt mit Dingen, die uns Zeit rauben. Auch wenn die Aktivitäten, denen wir nachgehen unterschiedlich sind und aus unterschiedlichen Motivationen heraus erfolgen, so führen dennoch die meisten davon in geschäftiges Tun, aber nicht ins Glück.
Der Text lässt an einigen Stellen erkennen, dass er 2000 Jahre alt ist (heute verschwendet sicherlich niemand mehr Zeit auf Sklavenzucht), er hat dennoch nichts an Aktualität eingebüßt.
Die Folge war vor 2000 Jahren die gleiche wie heute, nämlich:
Ein kleiner Teil des Lebens nur ist wahres Leben; der ganze übrige Teil ist nicht Leben, ist bloße Zeit.
Wer es nicht glaubt, der kann folgendes Gedankenexperiment unternehmen. Ich habe das Original Experiment leicht abgewandelt. Stelle dir einen normalen Wochentag vor. Du hast 24 Stunden, ziehe nun ab:
Am Ende bleibt meist nur eine Schlußfolgerung:
Du hast verdammt wenig Zeit!
Diese Einsicht ist durchaus erschreckend, vor allem wenn man sie mit Annie Dillards Zitat verbindet, denn sie schrieb einst "So wie wir unsere Tage verbringen, verbringen wir unser Leben."
Seneca sieht das ähnlich:
"Frage dein Gedächtnis, wenn du einmal deiner Sache wirklich sicher gewesen bist, wie wenige Tage deiner Absicht gemäß verlaufen sind, wie selten du mit dir selbst Umgang gepflogen, wie selten du dein wahres Gesicht gezeigt, wie oft dein Gemüt verzagt hat; frage dich, was du in dieser langen Lebenszeit tatsächlich geleistet, wie viel dir von deinem Leben durch andere weggenommen worden, ohne dass du den Verlust gewahr wurdest, wie viel dir vergebliche Trauer, törichte Freude, unersättliche Begierde, der Reiz der Geselligkeit Zeit geraubt, wie wenig dir von dem Deinigen geblieben – und du wirst einsehen, dass du stirbst, ehe du reif bist
Für alle, die so Ihre kostbare Zeit verschwenden liefert er eine Ermahnung:
Ihr lebt, als würdet ihr immer leben; niemals werdet ihr eurer Gebrechlichkeit euch bewusst; ihr habt nicht acht darauf, wie viel Zeit bereits vorüber ist; ihr verschwendet sie, als wäre sie unerschöpflich, während inzwischen gerade der Tag, der irgend einem Menschen oder einer Sache zuliebe hingegeben wird, vielleicht der letzte ist.
Seneca, weise wie man es nur sein kann, wenn man einen Text geschrieben hat, der Millenia überdauert, hat auch eine Erklärung:
Die Täuschung kommt daher, dass die Zeit etwas Unkörperliches ist und nicht mit den Augen wahrgenommen wird. Könnte einem jeden die Zahl seiner künftigen Jahre ebenso genau vorgerechnet werden wie die vergangenen, wie würden diejenigen, die nur noch auf wenige Jahre Aussicht hätten, zittern, wie sparsam würden sie mit diesen wenigen umgehen!
Es ist tragisch, wie wir meistens vor uns hinleben, ohne das große Ganze sehen. Und so geht das Leben so vieler in eine Richtung:
Worauf läuft’s hinaus? Du bist immer mit Geschäften beladen, das Leben eilt; inzwischen wird der Tod sich einstellen, für den du Zeit haben musst, du magst wollen oder nicht.
Sie belasten sich mit Geschäften, um besser leben zu können; auf Kosten des Lebens richten sie sich ihr Leben ein!
Was soll man nun tun? Wie soll man sein Leben verbringen?
Für Seneca war die Antwort klar: Man solle sich mit den Philosophen beschäftigen und fügt ein emotionales Plädoyer an:
Welches Glück, ein wie herrliches Alter erwartet den, der sich unter ihren [der Philosophen] Schutz gestellt hat! Mit ihnen kann er sich über die unbedeutendsten eben sowohl wie über die wichtigsten Dinge verständigen; sie kann er täglich zu Rate ziehen; von ihnen kann er die Wahrheit hören ohne jede Demütigung, Lob erhalten ohne Schmeichelei; nach ihrem Vorbild kann er sich selbst heranbilden. Wir pflegen zu sagen, die Wahl unserer Eltern stehe nicht in unserer Macht, der Zufall sei es, der sie den Menschen gebe. Nein! Die Verfügung über unser Dasein liegt in unserer eigenen Hand.
Ob man sein Leben dem Studium der großen Philosophen widmen muss, ist jedem selbst überlassen.
Die Briefe Senecas haben auf jeden Fall eine tolle Wirkung. Eine große Empfehlung meinerseits.
Seneca - Von der Seelenruhe / Vom glücklichen Leben / Von der Muße / Von der Kürze des Lebens (Geschenkbuch Weisheit) >>
Hi Stefan, Deine Episode „Sorgen“ passte an dem Tag derart gut – ich dachte schon, Du hast eine Kamera in meinem Büro hängen 😉
Deine Kommentare haben mir an dem angespannten Sorgen-Tag sehr geholfen!
DANKE!